Albert Schweitzer



Die Ehrfurcht vor dem Leben gilt allem Leben. Auch das Verhalten der Kreatur gegenüber gehört zur Sittlichkeit.

 

Die Grenze zwischen dem empfindenden und nicht emfindenden Leben ist schwer zu bestimmen. Es ist möglich, dass sie tiefer herabreicht als wir annehmen. Ihre Festlegung ist für die Sittlichkeit nur von untergeorneter Bedeutung, da diese es nicht allein mit dem Mitgefühl für Schmerz, sondern mit der Ehrfurcht vor dem Leben als solchen zu tun hat. Jede Zerstörung von Leben ist unsittlich, jede Förderung desselben sittlich.


Brigitte Prem: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Ehrfurcht vor dem Leben in unserem eigenen Leben verwirklichen können. Albert Schweitzer aber ist, sonst hätte er nicht die Größe, die ihm zugeschrieben wird, durchaus realistisch, wie das folgende Zitat beweist:



Der Konflikt mit der Wirklichkeit

Auch ich bin der Selbstentzweing des Willens zum Leben unterworfen. Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt.  Meine Nahrung gewinne ich durch die Vernichtung von Pflanzen und Tieren. Wenn ich auf einsamem Pfade wandle, bringt mein Fuß Vernichtung und Weh über die kleinen Lebewesen, die ihn bevölkern. Um mein Dasein zu erhalten, muss ich mich des Daseins, das mich schädigt, erwehren. Ich werde zum Verfolger des Mäuschens, das in meinem Haus wohnt, zum Mörder des Insekts, das darin nisten will, zum Massenmörder der Bakterien, die mein Leben gefähden können. Meine Nahrung gewinne ich durch die Vernichtung von Pflanzen und Tieren. Mein Glück erbaut sich aus der Schädigung der Nebenmenschen.

Wie behauptet sich die Ethik in der grausigen Notwendigkeit, der ich durch Selbstentzweiung des Willens zum Leben unterworfen bin?

 

Die gewöhnliche Ethik sucht Kompromisse. Sie will fest legen, wie viel ich von meinem Dasein und von meinem Glück dahin geben muss und wie viel ich auf Kosten des Daseins und Glücks anderern Lebens davon behalten darf. Mit diesen Entscheiden schafft sie eine angewandte, relative Ethik. Was in Wirklichkeit nicht ethisch, sondern ein Gemisch von nicht ethischer Notwendigkeit und von Ethik ist, gibt sie als Ethik aus. Damit stiftet sie eine ungeheure Verwirrung an. Sie lässt eine immer zunehmende Verdunkelung des Begriffes des Ethischen aufkommen.

 

Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben , unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager.

Immer von neuem und in immer originaler Weise setzt die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sich im Menschen mit der Wirklichkeit auseinander.



Die Ethik tut die Konflikte nicht für ihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selbst zu entscheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und inwieweit  er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen  und damit Schuld auf sich nehmen muss. Nicht durch empfangene Anleitung zu Ausgleichen zwischen ethisch und notwendig kommt der Mensch in der Ethik voran, sondernnur dadurch, dass er die Stimme des Ethischen immer lauter vernimmt, dass er immer mehr von Sehnsucht beherrscht wird, Leben zu erhalten und fördern, und dass er in dem Widerstande gegen die Notwendigkeit des Vernichtens und Schädigens von Leben immer hartnäckiger wird.


Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen. Niemand kann für ihn bestimmen, wo jedes Mal die äußerste Grenze der Möglichkeit des Verharrens in der Erhaltung und Förderung von Leben liegt. Er allein hat es zu beurteilen, indem er sich dabei von der aus das Höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten lässt.


Brigitte Prem: Es obliegt also jedem einzelnen, in jeder einzelnen Situation, zu entscheiden, wie er der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gerecht werden kann. Es ist auch Schuld, das eigene Leben zu schädigen.

Ein Beispiel: Ein Drittel unserer Lebensmittel landet unangetastet auf dem Müll und gleichzeitig müssen Millionen von Kindern abends hungrig ins Bett gehen. Gleichzeitig muss für jedes erzeugte Lebensmittel ein Leben sterben.

 

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20.7.15



Es war, als hätte man eine gewisse Angst, der Unterschied zwischen Mensch und Tier könnte verwischt werden. So hat man in dieser Sache bankrott gemacht. So lebt in unserer Menschheit eine Rohheit und Gedankenlosigkeit,

Für arme Stadtmenschen unserer Zeit ist die Gefahr, in der Frage Mensch und Kreatur stecken zu bleiben, besonders groß. Die Wenigsten besitzen auch nur einen Hund; die Kühe, deren Milch wir trinken, haben wir nie gesehen. Unser Zur-Miete-Wohnen hat eine Mauer zwischen dem Tier und uns aufgerichtet. Die meisten Kinder bei uns wachsen auf und haben nie das Seelenvolle und Persönliche in dem Wesen des Tieres kennen gelernt, und es fehlt ihnen die Sinnigkeit und Milde des Gemütes, das auch mit Tieren gelebt hat.

 

Das Weh der Kreatur bleibt den meisten heutigen Menschen etwas Fremdes. Gar vielen Menschen ist es gar nicht mehr bewusst, dass sie mithaften für das, was die Kreatur bei uns erduldet. Sie denken auch, dass wir es eigentlich sehr weit gebracht haben. Wir haben ja den Tierschutzverein, wir haben die Polizei, die werden schon die nötige Vorsorge treffen.

Wer aber die Augen aufmacht, der erwacht aus dieser Sicherheit und sieht, was alles geschieht, weil keine Menschen da sind, die über die Kreatur wachen.

Frei nach Albert Schweitzer




Zu Albert Schweitzers Zeiten wünschte man sich wenigstens einen Tierschutzverein und Polizei, die die nötige Vorsorge treffen. Heute gibt es, denke ich, sehr wenige maßgebliche Leute, die sich gegen Tierleid, Massentierhaltung in Tierfabriken, Tierversuche, sinnlos schmerzhafte Schlachtung einsetzen.



WIE SIEHT ES HEUTE AUS? Ich zitiere Albert Schweitzer.

Wir waren doch alle so gewiss, dass in unserem Schlachthaus alles auf das Beste bestellt sei, weil es ja jetzt langsam zum Dogma wird, dass Straßburg in jeder Beziehung eine Musterstadt ist. Wir waren gewiss, dass alle Tiere möglichst ohne Qual und Angst getötet würden; und als dann einer letzten Sommer der Sache auf den Grund ging und seine Beobachtungen veröffentlichte, da erfuhren wir plötzlich, dass unser Schlachthaus in mancher Hinsicht eine wahre Tierhölle war und dass es darin zuging, wie es in einem modernen Schlachthaus nicht zugehen darf.


Quellen

Schweitzer, Albert: Ehrfurcht vor den Tieren. Herausgeber: Gräßer, Erich. Verlag C.H. Beck 2011

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20.7.15